Das Thermofenster ist eine von Autoherstellern in den Schadstoffklassen 5 und 6 bei der Produktion von Dieselfahrzeugen verwendete Software zur Regelung der Abgasreinigung. Das Thermofenster sorgt dafür, dass Autos in Labor- und unter Standardbedingungen die Stickoxid-Grenzwerte der EU einhalten, nicht aber unter Last und bei steigenden Motortemperaturen sowie im kalten Zustand. Und bevor Sie sich fragen: "Ja auch mein Diesel hat ein Thermofenster, und Ja, auch mir steht Schadenersatz zu, wenn das Auto nicht älter als 10 Jahre ist!"
- Verfahren C 63/18
- Verfahren 170/20
- Verfahren und weitere C-128/20
- Aktenzeichen 100/21
- Aktenzeichen Az. C-873/19
Dieser Artikel wurde am 8. November 2022 aus besonderem Anlass komplett überarbeitet. Er stellt die komplette Historie der EuGH-Verfahren zum Abgasskandal seit 2018 dar und soll zum Verständnis der aktuellen rechtlichen Situation dienen. Das letzte noch ausstehende Urteil wird - voraussichtlich - den Abgasskandal völlig auf den Kopf stellen, denn die bislang geführten Diskussionen ließen immer Raum für die Meinung der Hersteller zu ihren Motivationen, ein Thermofenster zu verwenden. Nach dem vorerst wohl letzten EuGH-Urteil, mit dem im Herbst 2022 gerechnet wird, bleiben da auch deutschen Gerichten keine Handlungsspielräume mehr:
DUH darf gegen KBA klagen - C-873/19
Der Europäische Gerichtshof hat im Abgasskandal mit Urteil vom 8. November 2022 für einen weiteren Paukenschlag gesorgt und die Rechte von Millionen Dieselfahrern erheblich gestärkt (Az. C-873/19). Der EuGH machte deutlich, dass es sich bei Thermofenstern um illegale Abschalteinrichtungen handelt. Zudem entschied der EuGH, dass Umweltverbände wie die Deutsche Umwelthilfe (DUH) gegen Typengenehmigungen durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) klagen dürfen. Das KBA ist aktuell der Meinung, dass Thermofenster, die die Abgasreinigung schon bei in Deutschland völlig üblichen Temperaturen herunterregeln, zulässig sind, und stellt daher Typengenehmigungen nicht in Frage. Dieser Auffassung hat der EuGH eine eindeutige Absage erteilt. Damit dürften sich Schadenersatzklagen im Abgasskandal auch wegen der Verwendung eines Thermofensters durchsetzen lassen. DUH ist klageberechtigt Bei der streitgegenständlichen Klage der DUH handelte es sich noch um den Dieselmotor des Typs EA 189, mit dem der Dieselskandal 2015 seinen Anfang nahm. Bei Millionen Fahrzeugen wurde in der Folge ein Software-Update aufgespielt. Das KBA hatte das Update genehmigt, obwohl es ein Thermofenster enthielt, dass die Abgasreinigung bei in Deutschland völlig üblichen Temperaturen herunterregelt und dadurch der Stickoxid-Ausstoß steigt. Das Urteil des EuGH hat erhebliche Auswirkungen auf den Abgasskandal. So sind zunächst die Fahrzeuge des VW-Konzerns mit dem Dieselmotor EA 189 betroffen, bei denen bereits ein Software-Update aufgespielt wurde. Zudem sind auch Thermofenster in den größeren Dieselmotoren mit 3 Litern Hubraum und mehr des Typs EA 897 oder EA 896 verbaut. Auch beim EA 288, dem Nachfolgemodell des EA 189, kommen Thermofenster zum Einsatz. Darüber hinaus verwenden auch Mercedes und andere Hersteller Thermofenster bei der Abgasreinigung. Wie die DUH mitteilt, hat sie aktuell noch gegen 119 Freigabebescheide des KBA vor dem Verwaltungsgericht Schleswig geklagt. Von den Klagen sind Millionen Diesel-Pkw in Deutschland betroffen. Nach dem Urteil des EuGH muss das VG Schleswig nun die Freigaben durch das KBA prüfen. Das könnte wiederum zum Rückruf von Millionen von Fahrzeugen oder sogar zu deren Stilllegung führen.Gibt es ein Thermofenster, dann gibt es auch Schadenersatz!
Die Thermofenster-Verfahren vor dem EuGH
Zum Aktenzeichen C-100/21 ist der BGH am 21. März 2023 zu einer sehr verbraucherfreundlichen Entscheidung gekommen. Demnach ist die Verwendung eines Thermofensters grundsätzlich unzulässig, unabhängig davon, ob diese Abschaltvorrichtung vorsätzlich mit Betrugsabsicht oder rein fahrlässig verwendet wurde. Daraus ergeben sich unter Umständen Millionen von Schadensersatzansprüchen von Verbrauchern gegenüber allen Herstellern, die das Thermofenster als Abschaltvorrichtung nutzen - allen voran Mercedes und Volkswagen.
Im Grunde geht es bei allen EU-Thermofensterverfahren um die Bewertung der Zulässigkeit unter Berücksichtigung der Unzulässigkeit einer Abschalteinrichtung i. S. von Art. 3 Nr. 10, Art. 5 II der Verordnung (EG) „Meines Erachtens ergibt sich jedoch entgegen dem Vorbringen von Mercedes-Benz Group und der deutschen Regierung aus den Bestimmungen dieser Richtlinie, dass sie auch die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, schützen soll."
Ein erstes Verfahren hatte sich um den damals noch recht aktuellen EA189 (Volkswagen Schadstoffklasse 5) gedreht. In Ihrem Abschluss-Antrag vor dem Europäischen Gerichtshof hatte die Generalanwältin sich im Verfahren C-693/18 früh (30. April 2020) und sehr eindeutig festgelegt: Die beklagte Volkswagen AG hat im Fall EA189 mit der Verwendung des Thermofensters europäisches Recht gebrochen. verfahrensinhalt: Ein Hersteller darf keine Abschalteinrichtung einbauen, die bei Zulassungsverfahren systematisch die Leistung des Systems zur Kontrolle der Emissionen von Fahrzeugen verbessert, um ihre Zulassung zu erreichen. Das entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Donnerstag (Urt. v. 17.12.2020, Rechtssache C-693/18) auf ein Vorabentscheidungsersuchen aus Frankreich hin. Der EA 189 ist aufgrund der abgeschlossenen Musterklage und dem teils hohen Alter der betroffenen Fahrzeuge sowie der Verjährungsthematik mehr oder weniger vom Tisch.
.Athanasios Rantos ist Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof und Nachfolger von Eleanor Sharpston und derzeit Schlüsselfigur in einem Verfahren, in dem es für die Hersteller von PKW-Motoren ums große Ganze geht. Bereits zu den Aktenzeichen C-128/20, C-134/20, C-145/20 wurde zum Thema "Thermisches Fenster / Thermofenster" verhandelt und der Generalanwalt macht im Vorfeld einer weiteren Entscheidung des Gerichtes ( (Az.: C 100/21 - Vorlage des Landgerichtes Ravensburg zum Az.: 2 O 393/20) deutlich, womit zu rechnen ist: Der Kernsatz:
Das Thermische Fenster / Thermofenster ist eine Manipulation der Motorsteuerung, die nicht mit EU-Recht in Einklang gebracht werden kann und daher unzulässig ist. Eigentümer betroffener Fahrzeuge haben einen Schadenersatzanspruch - völlig unabhängig davon, aus welchem Antrieb heraus die Hersteller diese Software eingebaut haben,
Zu den "Österreich-Verfahren" In seinem Schlussantrag vom 23. September 2021 hat Rantos erstmals deutlich gemacht, dass er ein Thermofenster bei der Abgasreinigung für eine unzulässige Abschalteinrichtung hält. In den drei Verfahren hatten österreichische Gerichte dem Europäischen Gerichtshof Fragen zur Zulässigkeit des Thermofensters bei VW und Porsche vorgelegt. Ein Urteil dazu wurde entsprechend dieses Vortrages am 14. Juli 2022 sehr verbraucherfreundlich gefällt. Es ließ den Herstellern aber noch die Möglichkeit, auf fehlende Betrugsabsicht zu plädieren.
Nach dem Plädoyer des Generalanwalts musste VW mit einer empfindlichen Niederlage vor dem höchsten europäischen Gericht rechnen. Der Abgasskandal erreichte damit eine ganz neue Dimension, aber es blieb ein Hintertürchen (fehlende Betrugsabsicht).
Was ist ein Thermofenster?
"Thermofenster werden nicht nur von VW bei der Abgasreinigung verwendet, sondern kommen auch bei vielen anderen Autobauern wie Daimler zum Einsatz“,sagt Rechtsanwalt Dr. Ingo Gasser. Vor dem EuGH ging es zunächst um Thermofenster bei VW und Porsche. In einem Fall wurde es dem EuGH zu Folge erst mit einem Software-Update aufgespielt. Wie der EuGH weiter mitteilt, sorge das Thermofenster dafür, dass die Abgasreinigung bei Außentemperaturen unter 15 und über 33 Grad reduziert werde.
Gleiches gilt, wenn das Fahrzeug in Höhenlagen über 1000 Meter unterwegs ist. Folge ist, dass der Stickoxid-Ausstoß steigt und der zulässige Grenzwert überschritten wird. Für den EuGH-Generalanwalt ist die Sache auch im aktuellen und noch nicht entschiedenen Ravensburger Fall klar: Thermofenster sind rechtwidrig, machte er in seinem Schlussplädoyer deutlich, und noch dazu: Es kommt nicht auf die Beweggründe an. Das bedeutet für die Rechtsprechung in Deutschland, dass die Verurteilung eines Herstellers im Einzelfall nicht davon abhängt, ob er fahrlässig oder absichtlich Betrug am Kunden begangen hat (Wechsel der heranzuziehenden Rechtsnorm § 826 zu § 823) Der Paragraf 823 BGB stellt fest, dass auch Fahrlässigkeit einen Schadenersatzanspruch auslöst.
Durch das Thermofenster werde die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter normalen Nutzungsbedingungen reduziert. Die durchschnittlichen Außentemperaturen lägen in Deutschland, Österreich und andern EU-Mitgliedsstaaten deutlich unter 15 Grad und auch Höhenlagen über 1000 Meter seien keine Seltenheit. Da das Thermofenster die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems somit deutlich verringere, stelle es eine Abschalteinrichtung dar. Der EuGH hatte mit Urteil vom 17.12.2020 bereits entschieden (AZ.: 170/20), dass Abschalteinrichtungen grundsätzlich unzulässig sind, wenn sie zu einem höheren Emissionsausstoß unter normalen Betriebsbedingungen im Straßenverkehr führen. Ausnahmen seien nur in sehr engen Grenzen und nur zum unmittelbaren Schutz des Motors vor Beschädigung zulässig. Auf eine solche Ausnahme könne sich VW aber nicht berufen, so der Generalanwalt.
Die neuen Urteile verallgemeinern die Rechtslage grundlegend und stellen fest: Betrug ist es, wenn ein Thermofenster genutzt wird, um Abgasreinigung zu regeln.
Denn das Thermofenster soll vornehmlich Teile des Abgasrückführungsrührungssystems (AGR-System) wie das AGR-Ventil, den AGR-Kühler oder den Dieselpartikelfilter schützen. Das berühre aber nicht den Motorschutz. Verbraucher dürften davon ausgehen, dass ein Fahrzeug den gesetzlichen Vorgaben entspricht und keine unzulässige Abschalteinrichtung verwendet wird. Eine unzulässige Abschalteinrichtung sei auch dann nicht als geringfügig anzusehen, wenn der Verbraucher selbst bei Kenntnis dieser Funktion das Fahrzeug gekauft hätte. Der Käufer könne dann eine Vertragsauflösung verlangen, so der Generalanwalt. „Folgen die Richter den Ausführungen des Generalanwalts, was häufig der Fall ist, können etliche Dieselfahrer Ansprüche im Abgasskandal geltend machen“, so Rechtsanwalt Dr. Gasser, Kooperationspartner der IG Dieselskandal.
Ob damit der Dieselskandal rund um das Thermofenster neu aufgelegt wird? Die aktuellen Entscheidungen des EuGH bedeuten Schadenersatz für Millionen von Autobesitzern, die bislang noch gezögert haben oder ihre Rechtsschutzversicherung nicht überzeugen konnten.
Hier noch einige interessante Quellen: