Zum Aktenzeichen VI ZR 128/20 waren schon erste Details zum im Grundsatz verbraucherfreundlichen Mercedes-Urteils des Bundesgerichtshofes bekannt geworden. Nun liegt das Urteil im Volltext vor und macht deutlich, wie klar sich der 6. Zivilsenat gegen den Daimler-Konzern positioniert hat und keine Ausflüchte mehr zur Existenz und zur Sittenwidrigkeit der Abschaltvorrichtung zulässt.
Das oberste Gericht stellt wie in vorangegangenen Urteilen aus Karlsruhe klar: Eine Abschaltvorrichtung ist nicht grundsätzlich sittenwidrig. Die Sittenwidrigkeit nach Paragraf 826 BGB ist dann gegeben, wenn ein damit unter Umständen einhergehender Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen wird.
Die Vorinstanz (LG Koblenz, Az: 1 O 74/18 und OLG Koblenz, Az.: 12 U1408/18) hatten die Vorträge der Klägerpartei als zu wenig überzeugend bewertet, um daraus eine Sittenwidrigkeit abzuleiten. In Folge mussten sich die Daimler-Anwälte nichtmals mit einer Antwort und eigenem Vortrag zu den Vorwürfen äußern
Im Verfahren um eine neu gekaufte 220-er C-Klasse mit dem Motor OM 651 (Schadstoffklasse 5) lag der Beweisaufnahme kein Rückruf vor. Der Kläger berief sich bei der Begründung seines Schadenersatzanspruchs auf die Unzulässigkeit einer Temperatur abhängigen Abgasrückführung („Thermisches Fenster“) und empfahl dem Gericht, auch die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung als unzulässig einzustufen.
Die Instanzen sahen aber in der Verwendung von Abschaltvorrichtungen nicht grundsätzlich einen Verstoß gegen den Schadenersatz-Paragrafen 826, denn die Abschaltvorrichtung sei auch auf dem Prüfstand aktiv und Maßnahmen zum Bauteileschutz seien nicht sittenwidrig.
Zu weiteren Abschaltvorrichtungen habe es keinen Sachvortrag gegeben, sodass die klageabweisende erste Instanz die Klage abgewiesen hatte. Die 2. Instanz hatte ein Urteil gefällt, das eine Sittenwidrigkeit nicht grundsätzlich ausschließen konnte – daher wurde die Revision zum BGH zugelassen.
Hier wurde festgestellt, dass eine Temperaturabhängige zwar grundsätzlich auch im genannten Temperaturbereich nicht zwangsläufig sittenwidrig sein muss, aber im Rahmen der EU-Verordnung zum Aktenzeichen 717/207/EG sittenwidrig schädigend sein könnte.
Das Revisionsgericht rügt, dass dem Sachvortrag des Klägers zum Thermischen Fenster nicht nachgegangen worden sei und die Kühlmitten-Solltemperatur-Regelung überhaupt nicht verhandelt wurde. Der BGH gibt das Verfahren zurück zum OLG Koblenz zur neuerlichen Entscheidung. Das Gericht hätte die genannten Abschaltvorrichtungen verhandeln müssen und das Ergebnis der Beweisaufnahme ins Urteil einbeziehen müssen.
Ein Sachvortrag sei bereits dann schlüssig, wenn der Kläger Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, um ein Recht der vortragenden Partei klarzustellen. Das Gericht muss entscheiden können, ob das Recht in Anspruch genommen werden kann oder nicht. Sind die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt, um über das vorliegende Recht zu entscheiden, dann ist es Sache des Richters – in diesem Fall des OLG – in die Beweisaufnahme einzutreten und Zeugen, Gutachter etc. zu nennen. Dies muss das Berufungsgericht nun nachholen.
Rechtsanwalt Dr. Gasser weiß aus eigener Erfahrung: „Damit ist das Verfahren jetzt zwar noch nicht gedreht, aber mit der Beweisaufnahme zum Thermischen Fenster und zur Kühlmittel-Regelung kommt Mercedes erwartungsgemäß ins Schleudern. Die Vorträge der Gegenseite sind selten substantiiert genug, um der Klageseite wirksam widersprechen zu können, selbst wenn deren Kenntnisse letzten Endes nur eine nicht belegte Behauptung ermöglichen!“
Für den Kieler Juristen bedeutet die BGH-Entscheidung „Neues Spiel, neues Glück“ für zahlreiche aktuell noch verhandelte Mercedes-Fälle, in denen ebenfalls ein nicht ausreichender Klägervortrag bemängelt wurde.
Kläger müssen als Nichtexperten ihren Vorwurf auch nicht detaillierter beschreiben. Das Gericht überzeugen muss der Kläger nach wie vor, er behält die Beweislast, zum Beweis kommt es aber erst, wenn beide Parteien hinreichend substantiiert dargelegt haben. Gasser: „Da muss der Hersteller Details konkret zum betroffenen Fahrzeugtyp vortragen, ansonsten gibt es ein stattgebendes Urteil ohne Beweisaufnahme.“
Willkürlich sei ein Vorwurf erst dann, wenn es überhaupt keine Hinweise auf die Stichhaltigkeit eines Vorwurfes gibt.
Der BGH rügt die Entscheidung des Berufungsgerichtes, Hinweisen auf die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung nicht nachzugehen, bzw als prozessual unbeachtlich anzusehen. Der Kläger hatte mit Hinweis auf KBA-Stellungnahmen und Presseberichten dazu mehr oder weniger eindeutig die Existenz der Abschaltvorrichtungen nachgewiesen und zwar konkret bei OM651 Motoren in GLK 220 CDI und bei OM642-Motoren in C-, E- und S-Klasse.
Im Juli 2019 hatte das KBA für die genannten Abschaltvorrichtungen einen Rückruf für 60.000 GLK angeordnet, das KBA geht insgesamt für diese Abschaltvorrichtung von 700.000 betroffenen Autos beider Motorentypen in der Schadstoffklasse 5 aus, darunter allein 260.000 Sprinter. „Ein weitergehender Vortrag ist vom Kläger nicht zu verlangen!“, so Rechtsanwalt Gasser, Kooperationsanwalt der IG Dieselskandal.